Der
deutsche Untertan
Auto:r Vera Lengsfeld / Veröffentlicht am 3. September 2021
Kaum eine literarische Figur ist in Deutschland so bekannt, wie Heinrich Manns Diederich Heßling, auch bei jenen, die den Roman nicht gelesen haben. Heßling ist obrigkeitshörig, feige und ohne Zivilcourage. Eine verachtenswerte Figur, für die es keine Sympathie geben kann. Fragte man unsere Mitbürger, würde jeder den Gedanken, er wäre wie Heßling ein Untertan, beleidigt weit von sich weisen. Wir sind doch alles überzeugte Individualisten, die sich, was die Älteren betrifft, sicher sind, dass sie sich niemals gefallen lassen hätten, was die DDR mit ihren Bewohnern anstellte. Oder doch? Josef Kraus hat jedenfalls den provokantesten Titel für sein Buch gewählt, um seinen Mitbürgern den Spiegel vorzuhalten. Der deutsche Untertanengeist ist höchst lebendig, ja er regiert uns regelrecht, ohne dass die „Vom Denken entwöhnt“ Seienden das wahrhaben wollen.
Schon Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche litten am deutschen Untertanengeist, Thomas Mann brachte es in seiner „Rede an die Deutschen“ zu Weihnachten 1940 auf den Punkt: „Euer Gehorsam ist grenzenlos und er wird von Tag zu Tag unverzeihlicher.“ Man erschrickt unwillkürlich ob der Aktualität dieses Wortes.
Im Jahr 1918, so Kraus, wurden kommunistische Putschisten von der Polizei gefasst, weil sie nicht über die Betreten verboten-Rasenflächen im Park rannten, sondern brav die nicht verbotenen Wege benutzten. Wer heute darüber lachen will, dem sollte es im Halse stecken bleiben, angesichts der Bereitschaft von Zeitgenossen, auch im Wald allein beim Joggen eine Maske zu tragen, weil ein überkandidelter Bürokrat sich diese absurde Vorschrift ausgedacht hat.
Eine wichtige Quelle des Untertanengeistes ist für Kraus Martin Luther, der die Obrigkeit für Gottes Dienerin hielt, der man Gehorsam schulde. Überschreite die Obrigkeit ihre Rechte, kann man Einspruch erheben und an das Gewissen der Entscheider appellieren. Widerstand ist nicht erlaubt.
Reformen kamen in Deutschland stets von oben, erfolgreiche Revolutionen gab es nur eine: 1989 im Teilstaat DDR. Bis heute nehmen große Teile der Linken es den Revolutionären der DDR übel, dass sie die Obrigkeit einfach hinweggefegt haben. Nach ihrem Verschwinden wurde der sozialistische Staat zur Unkenntlichkeit verklärt. Allerdings hindert es diejenigen, die ihn erleben mussten nicht daran, sich aktuell wieder daran erinnert zu fühlen: Lieferengpässe. Rationierungen, Nachverfolgung von Infizierten, Reisebeschränkungen, Demonstrations- und Versammlungsverbote, Abschaffung der Meinungsfreiheit, Ausgangssperren.
Der brave Deutsche macht alles mit. Es ist wie mit der Mauer; Als sie quer durch Berlin gezogen wurde, glaubten nicht einmal ihre Befürworter, dass dieses Monstrum lange halten könnte, es war zu absurd. Doch die neue Normalität dauerte 40 Jahre. Als die Corona-Beschränkungen beschlossen wurden, waren viele überzeugt, dass sie nicht länger als sechs Wochen aufrechterhalten werden könnten. Es wurde das neue Normal daraus, das nun schon anderthalb Jahre währt.
In vier Kapiteln untersucht Kraus, woraus sich der moderne Untertanengeist speist. An erster Stelle steht der linke Autoritarismus. Nachdem die Religion in der Gesellschaft keine entscheidende Rolle mehr spielt und der Kommunismus als Ersatzreligion ausgedient hat, sind eine Fülle von Ersatzreligionen geschaffen worden: Antirassismus, Globalismus, Antifaschismus, Kosmopolitismus, Europäismus, Universalismus.
Jeder dieser Ismen tritt mit absolutem Anspruch auf. Ihnen gemeinsam ist die Umerziehung, besser, Umprogrammierung des Menschen. Die entscheidende Rolle spielt dabei die Political Correctness. PC ist im westlichen Teil der Welt längst pandemisch geworden. “Es wurde daraus eine Art semantischer Machtergreifung mit Totalitätsanspruch“. Es geht nicht mehr um wahr oder unwahr, nur noch um gut oder böse. Was das ist, wird von den Sprachdiktatoren bestimmt.
„Die Sprache ist die Wirklichkeit der Gedanken“, wusste schon Karl Marx. Wer die Sprache beherrscht, ist auch Herr über die Gedanken. Etwas, das nicht mehr ausgesprochen werden darf, kann sehr bald nicht mehr gedacht werden. Alle totalitären Herrscher haben deshalb versucht, die Sprache zu beeinflussen, aber keinem ist das so umfassend gelungen, wie den heutigen PC-Diktatoren. Den Bürgern werden „Wahrheiten“ oder auch Falschheiten oktroyiert, denn Wahrheit ist ein Konstrukt, das jederzeit dekonstruiert werden kann.
Die Wirkung der sprachlichen Verwirrung ist bereits erheblich. In Deutschland, einstmals führende Bildungsnation, hat sich die Zahl der Rechtschreibfehler binnen 4 Jahrzehnten verdoppelt, Abiturienten sind zum Teil nicht mehr in der Lage, den Inhalt von Texten zu erfassen, beherrschen nicht einmal die Grundrechenarten. Je ungebildeter ein Mensch, desto leichter ist er zu beeinflussen.
Zur Durchsetzung von PC wird Nudging eingesetzt. „Nudge“ bedeutet Schubs und ist zu verstehen als permanent suggestive Warnung an die Bevölkerung, sich so oder so zu verhalten. In Deutschland ist Nudging im Kanzleramt vertreten. Es wurden „Verhaltensökonomen“ für Sonderaufgaben angestellt, die Strategien zur Beeinflussung der Bevölkerung entwickeln. Auch die Bertelsmann-Stiftung ist ganz vorn mit dabei. Sie entwickelte schon 2009 ein Strategiepapier, das inzwischen nicht mehr im Internet abrufbar ist, das konzeptionelle Überlegungen für eine erfolgreiche Regierungsstrategie enthält. Kraus bezeichnet das Papier als „Vademecum für die Durchsetzung von Reformen gegen den Willen der Bürger“. Vorgeschlagen wird u.a. die Schwächung des „Widerstandspotentials“ mittels eines „geschickten Partizipationsstils“. Kanzlerin Merkel hat das erfolgreich praktiziert. So hat sie den Kritiker der chaotischen Masseneinwanderung von 2015, Armin Schuster, zum Chef des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe gemacht und damit verstummt.
Wer sich nicht einbinden lässt und auf seiner Meinung beharrt, wird behandelt nach dem Motto von Mao: „Bestrafe einen, erziehe hundert“. Die Jagd auf Andersdenkende ist vergleichbar mit den Hexenverfolgungen, bei denen eine Denunziation ausreichte, um eine Hexe auf den Scheiterhaufen zu befördern. Oder sie ertrank bei der „Hexenprobe“, erwies damit ihre Unschuld, war aber dennoch tot. Auch wenn es heute nicht um Leben oder physischen Tod geht, wer als Rechter, AfD-nah oder, immer häufiger als Nazi stigmatisiert wird, erleidet den sozialen Exitus.
Mehrheitlich hat sich der deutsche Michel und Leid-Hammel (Kraus) mit seinen politisch und medial oktroyierten Ängsten an das Regime künstlich erzeugter Ängste gewöhnt. Er ist zu etwas geworden, das Friedrich Nietzsche als den „Nothsüchtigen“ bezeichnet hat. Er hält es inzwischen für das neue Normal, dass mit diesem Angstregiment alles begründet wird, auch die Einschränkung von Freiheitsrechten im Zuge von Corona, bald auch von Klimaschutz.
Josef Kraus will seine Leser dennoch nicht ohne optimistischen Ausblick entlassen. Also widmet er sich auf den letzten Seiten den Gegenmitteln.
Es ist das Einfache, das dennoch offensichtlich schwer zu machen ist: Freiheit und Eigenverantwortung. Sein Leben selbstbestimmt zu verbringen, ist weitaus anstrengender, als einfach zu gehorchen. Dabei ist der Mensch frei geboren und jeder, der einmal Kleinkinder beobachten konnte, weiß, dass der Drang zur Selbstbestimmung angeboren ist und durch Erziehung eingehegt werden muss. Deshalb spielen Familien eine entscheidende Rolle. Weil Familien ein möglicher Hort des Widerstandes gegen jede Diktatur sind, wurden und werden sie von allen totalitären Machthabern bekämpft. Auch heute sollen die Familien möglichst aufgelöst, die Kindererziehung dem Staat übertragen werden. Der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat das bereits im Jahr 2002 so formuliert: „Wir wollen die Lufthoheit über den Kinderbetten erobern.“
Auch wenn er das als Trojanisches Pferd zur Beruhigung der Bürgerlichen zurzeit in dieser Deutlichkeit nicht wiederholen wird, es ist das Programm der SPD geblieben. Verbrämt wird die Entmachtung der Familien mit dem angeblich edlen Ziel, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen. Dabei gilt das Grundgesetz selbstverständlich auch für Kinder. Es geht also darum, das Grundgesetz gegen Eltern in Stellung zu bringen, die es wagen, ihre Kinder zur Selbstständigkeit statt zum Gehorsam gegenüber dem Staat zu erziehen. In der Familie kann auch die Bildung stattfinden, die vom Staat nicht mehr angeboten wird. Kraus plädiert also dafür, dass Familien gestärkt werden, denn ein selbstbestimmtes Leben, darauf hat Wilhelm Humboldt schon hingewiesen, ist eine Frage der Menschenwürde.
Deshalb schließt Kraus: „Bürger, holt Euch Eure Souveränität zurück!“